Seltene Krankheiten stellen für die Gesundheitssysteme eine große Herausforderung dar, da nur begrenzte Kenntnisse für ihre Diagnose zur Verfügung stehen, die Zahl der Behandlungsmöglichkeiten begrenzt ist (für 95 % der bekannten seltenen Krankheiten gibt es noch keine zugelassene Behandlung) und ihre Prävalenz gering ist. Deshalb waren seltene Krankheiten in den letzten zwei Jahrzehnten eine Priorität für die Europäische Union, was zu kollektiven Maßnahmen führte, um den Wissensaustausch und den Zugang zu spezialisierter Versorgung für Patientinnen und Patienten zu erleichtern.
Das strategische Ziel der EU im Bereich der seltenen Krankheiten besteht darin, den Zugang der Patientinnen und Patienten zu Diagnose, Information und Versorgung zu verbessern. Das trägt dazu bei, die knappen Ressourcen in der EU zu bündeln, und ermöglicht es Patientinnen und Patienten sowie Fachleuten, Fachwissen und Informationen auszutauschen.
Die europäische Antwort auf diese Herausforderungen kann durch eine Kombination von Schlüsselelementen charakterisiert werden:
- Einrichtung und Unterstützung von European Reference Networks (ERNs)
- Unterstützung bei der Definition, Kodifizierung und Inventarisierung seltener Krankheiten
- Unterstützung bei der Ausweisung und Zulassung von Arzneimitteln für seltene Krankheiten
- Aufbau und Erweiterung der Wissensbasis, auch durch Forschung
- Stärkung der Patientenorganisationen
ERNs sind grenzüberschreitende Netzwerke, die europäische Fachzentren und Krankenhäuser zusammenbringen, um seltene, wenig verbreitete und komplexe Krankheiten und Zustände zu behandeln, die eine hochspezialisierte Gesundheitsversorgung erfordern.
ERNs ermöglichen es Spezialistinnen und Spezialisten in Europa, Fälle von Patientinnen und Patienten zu diskutieren, die von seltenen, wenig verbreiteten und komplexen Krankheiten betroffen sind, und geben Ratschläge für die am besten geeignete Diagnose und die beste verfügbare Behandlung.
Am Rare Disease Day interviewte HaDEA Professor Luca Sangiorgi, Koordinator von ERN BOND, dem European Reference Network für seltene Knochenerkrankungen und Vorsitzender der ERN-Koordinatorengruppe, dem Leitungsgremium der 24 ERNs.
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Können Sie die Bedeutung der ERN für den Bereich der seltenen Krankheiten erläutern?
ERNs versammeln über 1600 europäische Fachzentren, die sich mit seltenen, wenig verbreiteten und komplexen Krankheiten und Zuständen befassen, die eine hochspezialisierte Gesundheitsversorgung erfordern. Ihre Bedeutung auf dem Gebiet der seltenen Krankheit liegt darin, den Wissensaustausch zu ermöglichen und gemeinsame Patientenpfade und Leitlinien zu erstellen, die dann der gesamten Gesundheitsversorgung zur Verfügung gestellt werden. Patientenvertreter sind an allen Prozessen der ERNs beteiligt und engagiert, um sicherzustellen, dass ihre Perspektive bei der Arbeit der ERNs berücksichtigt wird.
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Die ERNs werden seit 2017 von der EU finanziert. Was sind Ihrer Meinung nach ihre größten Erfolge?
Der größte Erfolg der ERNs besteht darin, dass sie Patientinnen und Patienten mit einer seltenen Krankheit einen angemessenen harmonisierten Weg für Diagnose und Behandlung bieten. Darüber hinaus begünstigen die ERNs eine einheitlichere Behandlung der Patientinnen und Patienten in den teilnehmenden Ländern. Dies geschieht z. B. durch das virtuelle Diskussionsinstrument der ERNs (CPMS), das es Klinikern ermöglicht, die schwierigsten Fälle zu diskutieren.
Darüber hinaus tragen die ERN-Register, die pseudo-anonymisierte Daten über Patientinnen und Patienten mit seltenen Krankheiten sammeln, dazu bei, ein klares Bild vom natürlichen Verlauf der verschiedenen von den ERNs behandelten Erkrankungen zu gewinnen. Dies könnte es eines Tages ermöglichen, neue Behandlungen für Krankheiten zu finden, die derzeit nicht behandelbar sind. Nur für sehr wenige seltene Krankheiten gibt es eine therapeutische Option, und die ERN-Register leisten einen echten Beitrag zur Entdeckung neuer Behandlungsmöglichkeiten.
Die ERNs haben der EU in den letzten Jahren auch geholfen auf verschiedene Krisen zu reagieren, z. B. auf die COVID-10-Pandemie und den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Die Kommission hat einen Rahmen geschaffen, in dem ukrainische Gesundheitsdienstleister:innen die Mitglieder der Europäischen Referenznetzwerke um Ratschläge für ukrainische Patientinnen und Patienten mit seltenen oder komplexen Krankheiten bitten können. Darüber hinaus führen die ERNs Kooperationsmaßnahmen, den Aufbau von Kapazitäten und den Austausch bewährter Verfahren für die zuständigen ukrainischen Behörden und Gesundheitseinrichtungen durch.
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Was sind die Hauptziele und -erwartungen für die laufenden Finanzhilfen?
Die Hauptziele bestehen darin, die Möglichkeiten, die die ERNs für die Behandlung von Patientinnen und Patienten schaffen, zu stabilisieren und weiter auszubauen. Wir erwarten auch, dass wir künftige Möglichkeiten für bessere therapeutische und pflegerische Optionen erforschen, wie z. B. den Einsatz von künstlicher Intelligenz.
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Was sind die größten Herausforderungen für grenzüberschreitende Zusammenarbeit bei seltenen Krankheiten in Europa, und wie helfen ERN grants, diese zu bewältigen?
Es gibt immer noch einige Hindernisse, die einer wirksamen grenzüberschreitenden Zusammenarbeit im Wege stehen. Um diese Hindernisse zu überwinden, hat die ERN-Koordinatorengruppe kürzlich spezielle Arbeitsgruppen eingerichtet. Gleichzeitig hat uns die Unterstützung von ukrainischen Patientinnen und Patienten ein klares Beispiel dafür gegeben, dass die grenzüberschreitende Zusammenarbeit funktioniert. Die ERNs bieten nicht nur Behandlungen für Patientinnen und Patienten in Ländern an, in denen sie nicht verfügbar sind, sondern schulen auch die überweisenden Ärztinnen und Ärzte, um den Wissenstransfer und die Einführung neuer Verfahren zu erleichtern.
So wird beispielsweise mein Krankenhaus, das zu ERN BOND gehört und in Italien liegt, eine Person aus einem anderen Land operieren, in dem das chirurgische Fachwissen derzeit nicht verfügbar ist. Die Chirurginnen und Chirurgen des klinischen Zentrums, das die zu behandelnde Person überwiesen hat, nehmen an der Operation teil, nachdem sie eine spezielle Ausbildung absolviert haben. Dies ermöglicht es ihnen, diese therapeutische Strategie in ihrem Heimatland zu wiederholen.
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Wie wichtig ist die Unterstützung durch EU-Mittel für ERNs?
Die EU-Finanzierung ist von wesentlicher Bedeutung: Ohne diese Unterstützung wären viele der von mir genannten Aktivitäten nicht durchführbar. Die ERNs erhalten seit ihrer Gründung im Jahr 2017 EU-Mittel, und für den Zeitraum 2023-2027 werden ihre Aktivitäten mit einem direkten Zuschuss von mehr als 77 Mio. Euro unterstützt.
Es gibt laufende Maßnahmen, um in den EU-Ländern das Bewusstsein für die Bedeutung der ERNs als strategische Initiative zur Unterstützung von Patientinnen und Patienten mit seltenen Krankheiten zu schärfen. Dies ist eines der Hauptziele der Joint Action on integration of ERNs into national healthcare systems (JARDIN). Die Unterstützung der EU für die ERNs durch die Erleichterung der Interaktion zwischen den EU-Ländern ist für die Existenz der ERNs und für die Gemeinschaft der seltenen Krankheiten von wesentlicher Bedeutung.
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